Tarifvertragsparteien sind bei der Setzung ihrer Tarifnormen zwar grundsätzlich an den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) gebunden, so das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Die richterliche Kontrolle sei jedoch durch den Gestaltungsspielraum der Tarifpartner, eine grundsätzlich autonome Aushandlung der Tarifregelungen zu ermöglichen, und den damit einhergehenden Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, zugleich begrenzt. Bei Tarifnormen, deren Gehalte im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegen und bei denen spezifische Schutzbedarfe nicht erkennbar sind, sei die gerichtliche Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheit) angesichts der durch Art. 9 Abs. 3 GG (Tarifautonomie) geschützten Spielräume der Tarifvertragsparteien auf eine reine Willkürkontrolle beschränkt.
Die von zwei Arbeitgebern eingereichten Verfassungsbeschwerden bezogen sich inhaltlich auf Zuschlagsvergütungen für Nachtschichtarbeit. Die streitgegenständlichen Tarifverträge sahen für „Nachtarbeit“ einen Zuschlag von 50% vor, während dieser für „Nachtschichtarbeit“ nur 25% betragen sollte. Zwei tarifgebundene Arbeitnehmer, die im Dreischichtsystem, also auch nachts arbeiteten, hielten diese Differenzierung für gleichheitswidrig und klagten auf Gewährung eines 50%-Zuschlages. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte ihrer Klage stattgegeben. Die Regelung verstoße gegen den Gleichheitssatz und sei durch eine „Angleichung nach oben“ zu korrigieren. Alle nachts Arbeitenden kamen so zu einem Zuschlag von 50%. Die betroffenen Arbeitgeber und ihre jeweiligen Verbände legten dagegen erfolgreich Verfassungsbeschwerde beim BVerfG ein, welches die Urteile des BAG aufhob und die Sachen zur erneuten Entscheidung an das Gericht zurückverwies. Das BVerfG sieht in den Urteilen des BAG eine Verletzung der den Tarifvertragsparteien zustehenden Tarifautonomie. Die Koalitionsfreiheit sei nicht in verfassungsrechtlich zutreffender Weise berücksichtigt worden. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit werde zwar nicht schrankenlos gewährleistet, jedoch falle die Festlegung von Zuschlägen zur Vergütung von Nacht- bzw. Nachtschichtarbeit in den Kernbereich der geschützten Gestaltungskompetenz der Tarifvertragsparteien und die gerichtliche Kontrollmöglichkeit sei daher auf eine Willkürkontrolle beschränkt. Diesen Kontrollmaßstab habe das BAG überschritten. Für die vorgenommenen tariflichen Differenzierungen zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit seien sachliche Gründe in Gestalt der unterschiedlichen sozialen Belastungen infolge der unterschiedlichen Planbarkeit, der Verteuerung von Nachtarbeit für den Arbeitgeber sowie der möglichen Motivation zur Erbringung von Nachtarbeit aufgrund des erhöhten Zuschlags objektiv erkennbar, und zwar unabhängig davon, ob sie Eingang in den Tarifvertragstext gefunden hätten. Das BAG habe sich ferner in verfassungswidriger Weise über die primäre Korrekturkompetenz der Tarifvertragsparteien hinweggesetzt, indem es „Anpassungen nach oben“ selbst vorgenommen habe. Die Vornahme etwaiger Änderungen der Tarifverträge stehe hingegen primär den Tarifvertragsparteien zu, so dass ihnen im Falle eines festgestellten Gleichheitsverstoßes zunächst die Chance zur tarifvertraglichen Korrektur gegeben werden müsse. Die Gerichte selbst seien zu einer solchen Vornahme von „Anpassungen nach oben“ allein dann berechtigt, wenn das Entschließungs- und Auswahlermessen der Tarifvertragsparteien auf eben diese eine Gestaltungsmöglichkeit reduziert sei. Diese gerichtliche Folgenbeseitigung komme dann jedoch regelmäßig nicht für die Zukunft, sondern allenfalls für die Vergangenheit in Betracht.
Fazit: Die Entscheidung des BVerfG hat für große Aufmerksamkeit und in Teilen auch für massive Kritik gesorgt. Sie unterstreicht die umfangreiche Gestaltungskompetenz der Tarifvertragsparteien und schiebt der Rechtsprechung des BAG und den in der Vergangenheit praktizierten „Anpassungen nach oben“ einen Riegel vor. Dies geht so weit, dass -sofern nicht willkürlich gesetzt- sogar doppelt so hohe Zuschläge für die ausnahmsweise anfallende Nachtarbeit im Vergleich zu Zuschlägen für regelmäßig anfallende Arbeit in Nachtschicht von dem weiten Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien gedeckt sein können. Es bleibt daher mit Spannung abzuwarten, wie das BAG den Beschluss nunmehr umsetzen wird.
BVerfG, Beschluss vom 11.12.2024 (Az.: 1 BvR 1109/21 und 1 BvR 1422/23)