BSG: Räumlicher Nahbereich trotz 30-minütiger Fahrtzeit

Die in § 24 Abs. 5 Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) geforderte „räumliche Nähe“ von ausgelagerten Praxisräumen zum Vertragsarztsitz sei gewahrt, wenn Vertragsärzt:innen ihren Vertragsarztsitz innerhalb eines Zeitraums von 30 Minuten aufsuchen können, urteilte das Bundessozialgericht (BSG). Im streitgegenständlichen Fall klagte eine überörtlich tätiges MVZ, das zytologische Laborleistungen für niedergelassene Gynäkolog:innen erbringt. Das MVZ zeigte der zuständigen KV an, ausgelagerte Praxisräume an einem neuen Standort für die Nutzung von Laborflächen in 9 km Entfernung (19 Minuten Fahrtzeit in verkehrsstarken Zeiten) anmieten zu wollen. Die KV jedoch sah eine räumlich Nähe zum Praxissitz nicht als gegeben an. Im Klageverfahren stellte das Sozialgericht fest, dass die Klägerin eine ausgelagerte Praxisstätte am geplanten Standort betreiben dürfe; dieses Urteil wurde wiederum vom Landessozialgericht (LSG) aufgehoben. Das BSG hob das Urteil auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung zurück an das LSG. Bei der Auslagerung von Praxisräumen sah der Senat die zeitliche Erreichbarkeit am Vertragsarztsitz innerhalb von maximal 30 Minuten generell als geeignetes Kriterium zur Bestimmung der räumlichen Nähe an. Es stelle sicher, dass Vertragsärzt:innen zur Durchführung ihrer Sprechstunden und auch bei Notfällen am Vertragsarztsitz persönlich zur Leistungserbringung in angemessener Zeit zur Verfügung stehen. Dies trage unterschiedlichen Anforderungen an ländlich strukturierte Gebiete wie auch an dicht besiedelte Großstadtgebiete hinreichend Rechnung. Die Erreichbarkeit in maximal 19 Minuten liege zudem deutlich unterhalb der Grenze von 30 Minuten der genannten Residenzpflicht, welche vor einigen Jahren ihrerseits grundsätzlich aufgehoben worden ist. Patienten wären zu keiner Zeit in der ausgelagerten Praxisstätte anwesend, da es sich um reine Laborleistungen handelt. Unerheblich sei, ob die Probe im Labor am Vertragsarztsitz oder in einem entfernteren Labor untersucht werde. Unerheblich sei ebenfalls der Gesichtspunkt, ob sich Vertragsarztsitz und ausgelagerte Praxisräume in unterschiedlichen Bedarfsplanungsbereichen befinden.

Fazit: Mit dieser Entscheidung stellt das BSG bislang bestehende Unsicherheiten in Bezug auf die Beurteilung der „räumlichen Nähe“ von ausgelagerten Praxisräumen klar und verwirft mittlerweile überholte Bewertungskriterien dieses unbestimmten Rechtsbegriffs. So sollte nach früherer berufsrechtlicher Vorgabe “in den Augen des Publikums“ eine organisatorisch einheitliche Praxis auch bei Auslagerung von Praxisräumen vorliegen. Das BSG hält dagegen, engere Organisationsstrukturen seien durch Digitalisierungen möglich geworden. Auch existierten in der Vergangenheit BSG-Entscheidungen, welche eine Entfernung von 2,5 km für ausgelagerte Praxisräume bestätigte, eine Entfernung von 9 – 11 km jedoch ohne Berücksichtigung der Fahrtzeit tendenziell ablehnte (vgl. BSG Urteil vom 13.5.2015 – B 6 KA 23/14 R; BSG Urteil vom 8.8.2018 – B 6 KA 24/17 R). Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Abgrenzung von ausgelagerten Praxisräumen nach § 24 Abs. 5 Ärzte-ZV zu so genannten Zweigpraxen nach § 24 Abs 3 Ärzte-ZV. Hier kann es durchaus zu einer anderen Einschätzung kommen, da in Zweigpraxen das gesamte Leistungsspektrum und damit auch Sprechstunden angeboten werden und Vertragsärzt:innen die Anwesenheit in den jeweiligen Sprechstunden sicherzustellen haben. Unstreitig war im vorliegenden Fall, dass das MVZ „nur“ zytologische Laborleistungen ohne Sprechstunden in Laborräumen erbringen wollte.

BSG, Urteil vom 06.04.2022, B 6 KA 12/21 R