Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sollen sich niedergelassene Vertragsärzte nicht auf ein Streikrecht berufen können. Die Karlsruher Richter führten unter anderem aus, das Gemeinschaftsgut der Gesundheitsversorgung gehe grundsätzlich einem Streikrecht der Ärzte vor.
Die diesem Beschluss zugrunde liegende Verfassungsbeschwerde wurde vom Vorsitzenden des MEDI Verbundes, Herrn Dr. Werner Baumgärtner, erhoben. Ihr Gegenstand war ein von der zuständigen KV erteilter disziplinarrechtlicher Verweis wegen Praxisschließung während der Sprechzeiten zum Zwecke eines „Warnstreiks“ (Verstoß gegen die Präsenzpflicht). Gegen diesen Verweis wandte sich der Beschwerdeführer erfolglos vor den Sozialgerichten.
Die Verfassungsbeschwerde wurde vom BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen. Begründet wurde dies unter anderem damit, dass der Verfassungsbeschwerde keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukomme und sie in der Sache keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe.
Das BVerfG führt in seinem Beschluss aus, es sei weder dargelegt noch ersichtlich, dass es sich bei der vom Beschwerdeführer als „Warnstreik“ bezeichneten Schließung seiner ärztlichen Praxis um eine koalitionsmäßige Betätigung im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG handele. Der bloße Hinweis darauf, dass er an zwei Tagen „zusammen mit fünf anderen Kollegen“ seine Praxis schließe, nachdem er zuvor der Beklagten gegenüber erklärt hatte, dass er damit das allen Berufsgruppen zustehende Streikrecht ausübe, reiche insofern nicht aus.
Auch die Rüge einer Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsausübungsfreiheit) durch die Disziplinarmaßnahme der KV genüge den erforderlichen Substantiierungsanforderungen nicht. Aufgrund der Verletzung der Präsenzpflicht als eine vertragsärztliche Pflicht sei die zuständige KV grundsätzlich berechtigt gewesen, gegen den Beschwerdeführer eine Disziplinarmaßnahme zu verhängen.
Inwiefern diese Maßnahme ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in die Berufsfreiheit darstelle, habe die Beschwerdeschrift nicht hinreichend dargelegt. Die die Berufsausübung regelnde Präsenzpflicht der am Vertragsarztsystem teilnehmenden Ärzte folge aus der Verpflichtung zur vertragsärztlichen Versorgung mit dem Ziel, die ärztliche Versorgung der gesetzlich Versicherten sicherzustellen.
Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung stelle dabei ein besonders wichtiges Gemeinschaftsgut dar, das grundsätzlich auch Einschränkungen der Berufsausübungsfreiheit rechtfertigen könne, sofern diese verhältnismäßig seien.
Als „von vornherein unzureichend“ bezeichneten die Karlsruher Richter auch den Vortrag des Beschwerdeführers, das in den Entscheidungen zum Ausdruck kommende Verbot von Arbeitskampfmaßnahmen stelle eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG dar. Ob Arbeitskampfmaßnahmen in den Schutzbereich der Berufsausübungsfreiheit fallen, habe das Bundessozialgericht (BSG) in der angegriffenen Entscheidung offengelassen und auch das BVerfG noch nicht ausdrücklich entschieden. Dies entbinde den Beschwerdeführer aber nicht von jeglicher Darlegungslast. Ein Verweis auf einen Aufsatz, der insoweit aber keine Begründung enthält, genüge dem nicht.
Fazit:
Der der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegende Sachverhalt liegt schon einige Jahre zurück. Im Jahr 2012 hatte Herr Dr. Baumgärtner seine Praxis geschlossen und zuvor ausdrücklich erklärt, er wolle damit das ihm verfassungsrechtlich zustehende Streikrecht wahrnehmen. Die meisten Ärzte waren aus Angst um ihre vertragsärztliche Zulassung nicht bereit, ihm zu folgen. Es gab an diesen Tagen jedoch öffentliche Kundgebungen von Ärzten im Raum Stuttgart.
Die zuständige KV hielt den „Streik“ für unzulässig und erteilte dem Vertragsarzt einen disziplinarrechtlichen Verweis. Dagegen klagte er und argumentierte, sowohl im Grundgesetz als auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention sei ein Streikrecht verankert, das nicht nur für abhängig Beschäftigte gelte. Vertragsärzte in Versorgungspraxen mit einem hohen Anteil gesetzlich Versicherter seien auf ihren Status als Vertragsarzt angewiesen und durch zahlreiche Reglementierungen in ihrer freiberuflichen Entscheidungsfreiheit extrem beschränkt.
Ohne Streikrecht gebe es keine Möglichkeit, Bürokratie abzuwehren und höhere Honorare durchzusetzen. Bundessozialgericht wies im Jahr 2016 die Klage ab (wir berichteten). Das Streikrecht sei für abhängig Beschäftigte geschaffen worden. Während bei diesen klar sei, dass sich ein Streik gegen die Arbeitgeber richte. Wie bereits erwähnt, ließ damals das BSG offen, ob für andere Freiberufler dennoch ein Streik irgendwie in Betracht kommen könne, Vertragsärzte jedoch hätten kein Streikrecht und ihre Präsenzpflicht zu erfüllen.
Da nun auch das BVerfG diese Auffassung teilt, bliebe nur noch die Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Doch ebenso wie das Grundgesetz erwähnt auch die Europäische Menschenrechtskonvention ein Streikrecht nicht direkt und der in allen Konventionsstaaten bekannte Begriff der „Gewerkschaft“ setzt einen Zusammenschluss von Arbeitnehmern zur Vertretung ihrer Interessen aus dem Beschäftigungsverhältnis voraus. Auch in diesem Zusammenhang wäre also zu befürchten, dass Angehörigen eines verkammerten Berufes und hoch regulierten Vertragsarztsystems, die jedoch als Selbständige agieren, kein Streikrecht zugestanden wird.
BVerfG, Urteil vom 24.10.2019 (Az.: 1 BvR 887/17)